Ein Haus in Veränderung
Warum wird ein Haus vom Keller bis unters Dach umgekrempelt? Wie kommt es, dass ein Raum plötzlich unbedingt Akustiksegel braucht? Warum ist eine neu angelegte Gartenterrasse nur siebzehn Jahre später schon wieder spurlos verschwunden? Bodentiefe Fenster ausgerechnet im Keller – muss das denn wirklich sein? Und was ist eigentlich mit den drei Schweinen und den Salatköpfen der Franziskaner passiert? Und wieso bloß hängt dort, wo fast zwanzig Jahre das Porträt von Papst Johannes Paul II. hing, jetzt eine Pinnwand mit Lieferscheinen und Notizzetteln?
Wo wir in Haus Ohrbeck heute Aula und Rundturm sehen (und wir denken: »Ja was denn auch sonst?«), erinnert nichts mehr an die großzügige Gartenterrasse, die hier vor fünfzig Jahren der gewohnte Anblick war. Genau dort, wo 1967 eine franziskanische Oberin am Schreibtisch in ihre Unterlagen schaut, sitzen heute unsere Gäste und lesen Zeitung. Den freien Blick über die Felder auf Haus Ohrbeck haben eine Reitanlage und mächtig gewordene Baumkronen unwiederbringlich verschwinden lassen. Wer im Garten umhergeht, kreuzt die Wege, auf denen sechzig Jahre zuvor ein Franziskanerbruder zu den selbst angebauten Tomaten und Erdbeeren unterwegs ist. Und auch das, was für uns heute gewohnte Ansicht und alltägliche Perspektive ist, wandelt sich. Haus Ohrbeck ist in Veränderung – immerzu.
Aus dem Exerzitienhaus der Franziskaner wird Haus Ohrbeck
Eigentlich sieht es schon aus wie Haus Ohrbeck – wären da nicht das Tor, das kleine Schild an der Mauer und die großen Buchstaben an der Stirnseite: EXERZITIENHAUS. Diese Aufnahme, Ende der 1960er Jahre entstanden, zeigt das Haus genau am Übergang vom Exerzitienhaus der Franziskaner zur Bildungsstätte Haus Ohrbeck: Nach Jahrzehnten, in denen die Brüder in volle Belegungsbücher für ihre Exerzitienkurse blicken, geht das Interesse im Laufe der 60er Jahre stark zurück. Auf die veränderten Lebensverhältnisse und die neu entstehenden Bildungsformen reagieren die Franziskaner mit dem Entschluss, das Exerzitienhaus in die Erwachsenenbildungsstätte »Haus Ohrbeck« umzuwandeln. Nach großem Umbau wird Haus Ohrbeck am 24. September 1971 als Begegnungsstätte »zwischen allen Konfessionen, Parteien, Berufen und Altersstufen« eröffnet.
Alles neu: Klubabende, Dialog-Foren, offener Austausch
Haus Ohrbeck eröffnet 1971 mit dem damals ebenso progressiven wie neuen Konzept so genannter Klubabende und Dialog-Foren – offene Veranstaltungen, die auf Beteiligung und Austausch angelegt sind und auf großes Interesse stoßen. Das verändert auch die Räume: Der damals größte Raum wird so umgebaut, dass er sich für große Teilnehmerkreise und Diskussionen eignet – hier gut zu erkennen an der dichten Bestuhlung und den Akustiksegeln zwischen Türen und Decke. Die Klubabende laden zum Austausch über aktuelle Themen ein, während das Dialog-Forum Gesellschaftsgruppen und Berufe, die miteinander Probleme zu lösen haben, ins Gespräch bringt. Themen der ersten Veranstaltungen: Aufklärung für Erwachsene, Medikamentenmissbrauch, Zur Krise des Religionsunterrichts.
Neue Arbeitsformen – neue Bedürfnisse – neue Räume
Die neuen Arbeitsformen in den Seminaren von Haus Ohrbeck verändern nicht nur das Gesicht der Seminarräume: Die Teilnehmer haben das Bedürfnis nach Orten, wo sie sich auch außerhalb der Seminare aufhalten und miteinander ins Gespräch kommen können. Das gesamte Kellergeschoss, wo damals Wäscherei und Küche untergebracht sind, wird einbezogen und dafür von Grund auf umgestaltet. Neue bodentiefe und fast deckenhohe Fenster lassen helle Räume entstehen: Bibliothek, Bar und Kaminraum mit direktem Zugang zu Terrasse und Garten werden eingerichtet.
Eine Gartenterrasse muss dem Neubau weichen
»Die Attraktion des Hauses liegt im Kellergeschoß. Hier entstand eine Gartenhalle mit Kamin und Klubraum [...]. Die Außenarbeiten laufen auf Hochtouren. Hier werden Parkanlagen mit windgeschützten Sitzecken geschaffen. Man kann von der Gartenhalle und vom Klubraum direkt die Außenanlagen betreten.«
Neue Osnabrücker Zeitung, 23. Juli 1971
Schon 1988, nur 17 Jahre später, muss die Gartenterrasse wieder aufgegeben werden: Der Neubau mit zusätzlichen Seminarräumen (Aula, Forum) und weiteren Gäste- und Referent:innenzimmern entsteht.
80 Jahre Thuiner Franziskanerinnen
Neben den Franziskanern, die bis heute in Leitung und Referententeam vertreten sind, arbeiten Thuiner Franziskanerinnen seit der Eröffnung des Exerzitienhauses von 1926 bis 2005 in der Hauswirtschaft und an der »Pforte«, wo Gäste zu Seminaren anreisen. Bis zu vier Schwestern haben in der zweiten Etage des Haupthauses ihren separaten Wohnbereich, dessen Räume nach ihrem Auszug in Gästezimmer umgewandelt werden. Die Aufnahme zeigt Oberin Sr. Radegundis 1967 in ihrem Büro, dem heutigen Lesebereich der Rezeption.
Cuxhaven, Hannover, Detmold, Itzehoe
Cuxhaven, Hannover, Detmold, Itzehoe – die Kennzeichen der Autos, die hier in drei Reihen neben der Kapelle Maria Waldrast parken, stecken das Einzugsgebiet des Exerzitienhauses Ende der 60er Jahre ab. Die gepflasterte Parkfläche wurde erst kurz vor der Aufnahme neu angelegt, wie die Reste des Einschlämmsandes auf dem neuen Pflaster zeigen. Dass Bedarf an weiteren Parkmöglichkeiten besteht, ist offensichtlich...
Haus Ohrbeck platzt aus allen Nähten
Knapp 12.000 Menschen nehmen 1973, nur drei Jahre nach der Eröffnung, an den Veranstaltungen in Haus Ohrbeck teil – eine Zahl, die alle Erwartungen übersteigt. Und die Franziskaner reagieren: Die Leitung der Franziskanerprovinz stellt dem Bildungshaus 20 Zimmer des Klosters zur Verfügung. Ab Februar 1974 ist das Haus auf der Rückseite von Kirche und Konvent Baustelle: Wände werden herausgebrochen, Sanitär- und Heizungsanlagen erneuert, Gästezimmer und Seminarräume entstehen. Am 20. Oktober 1974 wird das Haus unter dem Namen »Bonaventura« eingeweiht – und das bedeutet hier weit mehr als die wörtliche Übersetzung »Gute Zukunft«: Der Franziskaner Bonaventura, Philosoph und Theologe, leitet den Franziskanerorden von 1257 bis 1274 und prägt die franziskanische Ordensgeschichte entscheidend mit seinem progressiven und mutigen Denken.
Und wieder Umbau: Unruhe für die Brüder
»Das Jahr 1974 stand ganz im Zeichen des Umbaus des Konventes, dessen größerer Teil dem Bildungshaus zur Verfügung gestellt wird. Die Umbauarbeiten begannen im Februar und brachten sehr viel Unruhe und große Beschwerden für die Kommunität mit sich. Die Mitbrüder zogen in das Bildungshaus um und bewohnten einen Gang im obersten Stockwerk. Einige mußten sich mit sehr kleinen Zimmern begnügen ohne die Möglichkeit, ihre Bücher immer zur Hand zu haben, Manchmal gab es Beschwerden beim Treppensteigen, so daß Br. Ildefons sich den Arm brach.«
Chronik der Franziskaner, 1974
Drei Schweine, Salatköpfe und Erdbeeren
»Der Garten, der in liebevollster Sorge von Br. Aureus umhegt wird, zeigt schon die ersten Erfolge der neu gepflanzten Obstbäume. Auch das große Treibhaus strahlt seine Pracht an Tomaten, Salaten, Paprika usw. aus. Die 3 Schweine machen sich gut. Die veredelten Brombeeren, die Stachelbeeren und vor allem die langen Reihen von Erdbeeren lassen alle Herzen höher schlagen!«
Chronik der Franziskaner, 1966
1975 geben die Brüder den Klostergarten, der zuvor bereits nach und nach verkleinert wurde, auf: »Heute ist auch im Wesentlichen der Umbau des Klostergartens beendet, er ist nun für die Besucher von Haus Ohrbeck bestimmt.«
Chronik der Franziskaner, 25. Juni 1975
»Der Rock wurde bald zu eng.«
Kaum zehn Jahre nach der ersten Erweiterung platzt Haus Ohrbeck Mitte der 80er Jahre schon wieder aus allen Nähten: »Der Rock«, heißt es passend in einer Broschüre, »wurde bald zu eng«. 1987/1988 lebt und arbeitet das Haus mit einer Großbaustelle: Im neuen Gebäudetrakt entstehen neben zusätzlichen Gästezimmern weitere Seminarräume sowie im Kellergeschoss Büros für das wachsende Referent:innenteam. Und noch etwas fordert Raum: »35 Parkplätze entstanden neu in den Grünanlagen vor der Bildungsstätte. Mit den Baumkronen von Platanen und einem begrünten Wall vor dem Innenhof hoffen wir eine grüne Wand wachsen zu lassen, die den ›Blechhaufen‹ schamhaft verbirgt.«
Chronik Haus Ohrbeck, 1988
Haus Ohrbeck baut an
Kurz nach der Eröffnung des Erweiterungsgebäudes am 28. Juni 1988 entsteht diese Aufnahme. Wer sich Haus Ohrbeck von Osnabrück aus nähert, dem erschließt sich bei diesem freien Blick über die Felder die Idee des Architekten: Ein moderner, eigenständiger Gebäudetrakt, der sich deutlich wahrnehmbar vom bestehenden Komplex unterscheidet, der in seiner Architektur jedoch die Grundzüge des alten Gebäudes zitiert und sich auch in seiner Farbgebung daran anlehnt. Von dieser Perspektive sind heute nur die Kuppel der Rundkirche, die Dachspitzen und Schornsteine von Haus Ohrbeck geblieben – Bäume sind gewachsen, eine Reitanlage wurde gebaut.
»Kunst und Kreativität haben ihren Rang im Programm.«
»Kunst und Kreativität«, so 1988 die Chronik von Haus Ohrbeck, »haben ihren Rang im Programm. Die Ikonenmalschule findet gelehrige Schüler.«
Die Ikonenmalschule ist nur der Anfang: Über Jahre wird dieser neue Raum für die steigende Zahl kreativer Angebote genutzt – davon erzählen in dieser Aufnahme aus dem August 1988 die Leinwand, das Waschbecken daneben, die großzügigen Tischflächen und der abwaschbare Linoleumboden. Gut zu erkennen ist die Doppelnutzung des Raumes: Vorhänge an der Grenze von Linoleum- und Teppichboden ermöglichen es, ihn mit wenigen Handgriffen in einen Meditationsraum – so lange Zeit auch sein Name – zu verwandeln. 2012 wird der Raum erneut umgestaltet und umbenannt: Als »Forum« wird er auch heute für T’ai Chi und Zen, überwiegend aber als Seminar- und Tagungsraum genutzt.
... und Papst Johannes Paul II. muss weichen
Das Speisezimmer der Franziskanerinnen, die ihre Mahlzeiten in einem separaten Raum einnehmen, wird beim Um- und Neubau 1987/1988 ebenfalls renoviert. Was das Bild an der Wand zeigt, ist in dieser Aufnahme nicht zu erkennen – Mitarbeiterinnen, die bis heute in Haus Ohrbeck arbeiten, erinnern sich jedoch genau: Es ist ein Porträt von Papst Johannes Paul II. Nichts außer den vier Wänden ist von dieser Wirklichkeit aus dem Jahr 1988 geblieben: Mit dem Ende der Tätigkeit der Schwestern 2005 ändert sich die Funktion des Raumes und im selben Maße auch sein Aussehen grundlegend – heute ist er Büro- und Vorratsraum des Service.