Jedes Pünktchen zählt: 50. Hebräischkurs
»Bei Interesse ist eine Weiterführung des Kurses geplant.« – schmunzeln muss man, wenn man diesen Satz aus dem Programm 2006 heute liest, denn der Hebräischkurs Die Bibel LESEN findet seitdem ohne Unterbrechung statt, drei mal jährlich, und zum 50. Mal Ende Februar. Ebenfalls außergewöhnlich: Damals wie heute leiten Dr. Uta Zwingenberger und Diplom-Theologin Eva-Martina Kindl den Kurs – und auch eine Handvoll Kursteilnehmer:innen ist schon seit 2006 dabei. Grund genug, diesen Kurs mal unter die Lupe zu nehmen...
Jedes Pünktchen zählt
»Die Bibel LESEN« bietet die Möglichkeit, an drei Wochenenden im Jahr einen Bibeltext kapitelweise und fortlaufend in der hebräischen Originalsprache zu lesen. Wenn die Kursteilnehmer:innen nach Haus Ohrbeck kommen, erwartet sie also ein weißes Blatt mit Reihen hebräischer Schriftzeichen, in die sie sich mit Eifer gemeinsam vertiefen. Warum nur?, fragt man sich, denn wer sich für Bibeltexte interessiert und sich mit anderen darüber austauschen möchte, der könnte es doch so viel einfacher haben und eine Bibelübersetzung zur Hand nehmen.
Am Austausch über die biblischen Texte sind die Teilnehmer:innen ja auch interessiert – aber sie möchten eben noch ein bisschen mehr: Da ist zum einen der Wunsch, die Bibeltexte möglichst genau und dicht am hebräischen Original zu lesen, um sich ein eigenes Bild vom Wortlaut machen zu können. Zum anderen verbindet die Kursteilnehmer:innen der Spaß am gemeinsamen Enträtseln dieser für unsere Augen so rätselhaften Schrift, deren Buchstaben, Pünktchen und Häkchen auf den ersten Blick mehr filigranes Kunstwerk als Lesetext zu sein scheinen.
Wie löst man denn das Rätsel?
Ja, und wie löst man denn nun so ein Rätsel? Eva-Martina Kindl beschreibt es wie das Entwickeln eines Fotos im Entwicklerbad: Auf dem weißen Fotopapier zeigen sich zuerst nur Konturen da und dort, nach und nach kommen ein paar Flächen hier und da hinzu, Einzelheiten sind schon gut erkennbar, das Bild wird dichter und man ahnt vielleicht schon, was zu sehen sein wird, aber fast bis zum Schluss dauert es, bis man das Bild wirklich ganz erkennen kann.
Wie soll das mit einem Text funktionieren? Wie entwickeln denn die Kursteilnehmer:innen ihren Bibeltext? Im Detail ist es hier natürlich nicht zu erklären, aber vielleicht lässt sich am Beispiel des bereits »geknackten« Lesetextes Rut eine – stark vereinfachte – Idee von der Entwicklungsmethode geben:
Aus dem hebräischen Text werden zunächst einzelne, konturgebende Wörter herausgearbeitet: Im ganzen Text markieren die Teilnehmer als erstes die Verben. Das Ergebnis ist ein großes Sammelsurium, doch eines fällt sofort auf: Ein bestimmtes Verb kommt immer und immer wieder vor, der Text wirkt geradezu wie gespickt mit diesem Wort – und dieser Eindruck ist auch ganz richtig: Der hebräische Bibeltext verwendet in jedem Kapitel ein Leitwort, das zigfach wiederholt wird und dem Leser das zentrale Thema des Kapitels buchstäblich vor Augen führt. Im zweiten Kapitel Rut ist das Leitwort »(Ähren) sammeln«.
Als nächstes zeichnen sich vielleicht die Verben ab, die bedeutungsstark sind und den Handlungsverlauf anzeigen: (aufs Feld) gehen – befehlen – (nicht) schelten – niedersinken – trinken – sattessen – (in die Stadt) gehen. Mit dem Leitwort »Ähren sammeln« in Verbindung gebracht, begreift man zunächst möglicherweise nicht viel mehr, als dass hier wohl jemand zum Ährensammeln aufs Feld geht, irgendwie spielen Macht und Ohnmacht eine Rolle, aber offenbar nimmt alles ein gutes Ende, denn von Nahrung ist die Rede und davon, dass die Person das Feld wieder verlässt.
Nach und nach erschließen sich die Teilnehmer:innen immer mehr Wörter, Satzteile werden sichtbar, ganze Sätze kommen zum Vorschein, die Zusammenhänge werden immer klarer sichtbar. Und am Ende liegt der vollständig entwickelte Text vor ihnen: Rut, verarmt und schutzlos, sammelt Ähren auf dem Feld des reichen Boas, der ihr mit unerwarteter Fürsorge begegnet: Er gibt ihr zu essen und zu trinken und erlaubt nicht nur, dass sie Ähren sammelt, sondern befiehlt seinen Knechten, auf dem Feld reichlich Ähren für sie liegenzulassen, so dass sie mit einer guten Ernte in die Stadt zu ihrer Schwiegermutter zurückkehren kann.
Ein weiter Weg vom ersten markierten Verb bis hierher – zumal der Text natürlich noch wesentlich komplexer ist als diese Kurzfassung!